Für die Menschenwürde
Die vorausschauende humanitäre Hilfe wird immer wichtiger. 2023 konnte laut eines Berichts des Anticipation Hubs dank dieser fast 12,8 Millionen Menschen geholfen werden – bei stark steigender Tendenz. Zum Thema haben wir mit dem Leiter der Internationalen Zusammenarbeit beim Deutschen Roten Kreuz (DRK), Christof Johnen, gesprochen.
Was zeichnet die vorausschauende humanitäre Hilfe im Vergleich zur üblichen humanitären Hilfe aus?
Christof Johnen: Humanitäre Hilfe ist traditionell etwas Reaktives. Wenn es zum Beispiel zu Überschwemmungen kommt, dann helfen wir den notleidenden Menschen mit bedarfsgerechten Hilfsgütern. Mittlerweile können wir aber bestimmte Ereignisse wie Überschwemmungen vorhersehen und in dem Moment greift die vorausschauende humanitäre Hilfe proaktiv ein. Nicht im Sinn der wichtigen Vorsorge durch Hochwasserdämmen und Ähnlichem und aufgrund einer allgemeinen Gefahrenlage, sondern im Sinn von kurzfristiger, sehr direkter Hilfe zum Beispiel durch Bargeldhilfen an betroffene Menschen eines akut bevorstehenden Ereignisses.
Was bringt das für Vorteile mit sich?
An der Stelle geht es aus meiner Sicht vor allem um zwei Aspekte: Erstens eine höhere Effizienz, weil ein schnelles und proaktives Handeln kostengünstiger ist und grundsätzlich weniger Schäden entstehen. Zweitens ist das Ganze aber auch im Sinn der Menschenwürde. Wir schauen nicht einfach zu, wie auf Menschen etwas Schlimmes zukommt, sondern es hat etwas mit Würde zu tun, wenn man diesen Personen etwas Konkretes an die Hand gibt, um sich selbst zu helfen und so das Leid zumindest gemindert werden kann.
Wann kommt die vorausschauende humanitäre Hilfe zum Einsatz?
Automatisch immer dann, wenn sich eine Krise wie ein Dürre, ein Sturm oder eine Überschwemmung abzeichnet und vorher festgelegte Schwellenwerte zum Beispiel hinsichtlich eines Wasserpegels überschritten werden. In einem vorher definierten Maßnahmenprotokoll sind also bestimmte Schwellenwerte mit spezifischen Aktionen verknüpft, die dann umgehend ergriffen werden. Auch all die Zeit, die sonst verloren ging, Gelder zu beantragen, wird eingespart.
Die Logik des Protokolls ist: Je unsicherer der Eintritt einer Krise noch ist, desto weniger kostenintensive Maßnahmen führt man durch. Das fängt damit an, dass man die Bevölkerung warnt und sie darauf hinweist, Vorkehrungen zu treffen, zum Beispiel indem Vorräte an höher gelegenen Orten gelagert werden. Je wahrscheinlicher es dann zu einem Ereignis kommt, desto kostenintensivere Maßnahmen führen wir dann durch, zum Beispiel durch die zur Verfügungstellung von bestimmten Hilfsgütern oder durch Bargeldhilfen zur Vorratsbeschaffung.
Wo steht das DRK bei dieser Thematik?
Das DRK war und ist tatsächlich federführend. Wir haben als Vorreiter vor mehr als einem Jahrzehnt ein Konzept zur vorausschauenden Hilfe entwickelt, wie diese verlässlich funktionieren kann und wann diese zum Einsatz kommen sollte. Damals war die Unterstützung des Auswärtigen Amts entscheidend, wo führende Personen sehr früh die Bedeutung und Relevanz der Thematik verstanden und das Ganze auch mit Mut gefördert haben. Wir haben dann zeitnah auch erste Pilotprojekte in Uganda und Togo erfolgreich durchführen können. Inzwischen arbeiten wir im Kontext der vorausschauenden humanitäre Hilfe als DRK in mehr als 20 Ländern mit Schwestergesellschaften zusammen. Insgesamt arbeiten mehr als 80 Rotkreuz- und Rothalbmond-Gesellschaften mit dieser Methode. Bei uns ist auch der Anticipation Hub beherbergt, ein breit aufgestelltes Forum als Basis für Informationsaustausch, für die Vorstellung neuer Entwicklungen und den Abgleich von Wissenschaft mit den praktischen Erfahrungen bei vorausschauenden humanitären Hilfseinsätzen.